Autonomiephase 2.0

An Bubba Ray’s ersten Tobsuchtsanfall erinnere ich mich so klar, als wäre er nicht schon 1,5 Jahre her. Wir waren im Eingangsbereich eines Supermarktes. Wir wollten nur schnell wenige Dinge besorgen, ich griff zum Einkaufswagen und binnen weniger Sekunden tobte, weinte und schrie er, wie nie zuvor. Er konnte schon sprechen zu diesem Zeitpunkt, wirklich gut sogar. Ich verstand nur noch nicht, wieso er es gerade in diesem Moment plötzlich nicht mehr konnte. Was war denn eigentlich schief gelaufen? Vielleicht wollte er den Wagen selbst schieben? Hatte ich quasi vorgegriffen und die Situation so für ihn zerstört? Oder hatte ich den Wagen irgendwie falsch herausgeschoben, falsch gedreht, falsch bewegt? Was störte ihn denn um Himmels willen so sehr, dass er jetzt, hier im Eingangsbereich, noch vor den Einkaufswagen, wo sich natürlich ALLE Einkaufenden trafen um das Schauspiel zu betrachten, auf dem Boden kugelnd so laut brüllen musste? Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich beruhigte und trösten ließ. Nach fast 20 Minuten war klar, dass ich schlicht den falschen Wagen genommen hatte. Ich hatte zum schwarzen gegriffen – er wollte den gelben.

Als Wut bei uns wohnte

So unwichtig diese kleine Entscheidung mir in diesem Moment schien, so sehr hatte sie ihn bewegt, dass er und seine Gefühlswelt explodierten. Und für immer und ewig wird der Tag des falschen Einkaufswagens auch der Tag sein, an dem Wut einzog. Und auch nicht mehr verschwand.

Die ersten Monate zähle ich zu den härtesten und schmerzhaftesten Erfahrungen meines Lebens. Und seines Lebens. Die Wut war kaum zu bändigen. Eine haltlose, kräftige Wut, die man kaum begleiten konnte. Und ehrlich gesagt hätte ich auch keine Ahnung gehabt, wie ich das überhaupt hätte anstellen sollen. Sie war da, sie machte aus meinem Kind einen ganz anderen Menschen. Einen, der nicht wie sonst zugänglich war, sondern einen verschlossenen, tobenden kleinen Jungen, der weit weg in einer ganz anderen Sphäre schwebte. Ganz ehrlich, zugegeben und so wahr ich hier sitze: nur wenige Wochen nach Einzug der neuen Emotion, war ich selbst am Ende. Ein emotionales Wrack. Ich empfand ihn oft genug als tickende Zeitbombe, hatte regelrecht Angst, etwas falsch zu machen und wieder zu provozieren, dass es so eskaliert. Die Wut dominierte uns beide. Gleichzeitig gab es da dieses Baby, seinen erst wenige Wochen alten Bruder, der praktisch an mir klebte und sich nicht ablegen ließ. Und irgendwo unter all der Angst vor Wut und den Tobsuchtsanfällen, versteckte sich auch noch eine müde, abgekämpfte Mutter, die gern ein Buch gelesen oder einen Film gesehen hätte, anstatt sich an den Abenden zu verstecken und zu weinen, um all die Anspannung überhaupt irgendwo heraus lassen zu können.

Eine Lösung musste her. Eine neue Richtung. Eine andere Haltung. Denn: die Wut war da, egal wie sehr ich sie hasste. Doch das Hassen und der Kampf gegen sie, kostete mich Kraft, die ich für mein Kind brauchte. Ich las, lernte und änderte also schnell meinen Weg. Konkret hieß das zunächst, dass ich alle Tipps und Ratschläge befolgte, ihn spiegelte, für mehr stärkende Exklusivzeit sorgte, seine Eifersucht akzeptierte und tröstete, was das Zeug hielt. Es hieß, mich voll und ganz darauf einzulassen, dass die Wut eben nun mal ein Teil seines und meines Lebens geworden war, der nun nicht mehr wegzudenken sein würde. Ich befahl mir, sie nicht persönlich zu nehmen (wahnsinnig schwierig, da ich Wut immer schnell als sehr beleidigend empfinde) und zu betrachten wie Schmerz: eine Emotion, die ich meinem Kind niemals werde abnehmen können, jedoch helfen kann, sie einigermaßen erträglich zu machen. Monate vergingen, bis sich Linderung einstellte – zumindest in meiner Gefühlswelt. Die Tobsuchtsanfälle selbst waren durch die gezielten Methoden nach wenigen Tagen deutlich erträglicher für alle.

Aber ich? Ich zitterte weiter. Fragte mich, was da noch kommen würde. Wie ich das jemals aushalten würde. Ich hatte Angst davor, hätte sie am liebsten versteckt. Und zu allem Überfluss meldete sich nun immer häufiger die eigene Wut, aufgestauter Frust und der Wunsch nach Ruhe, Harmonie und Stille. Wochen und Monate lang füllten also alle möglichen Emotionen die Luft und die war zum Zerschneiden dick. Es war nicht einfach, diese ungeliebte und doch so wichtige Phase anzunehmen – geschweige denn zu mögen.

 

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Von Grenzen und Säulen

Eines Tages jedoch wurden die Eskalationen plötzlich weniger. Es gab ganze Wochen, in denen zwar Wut auftrat, aber eine, die sich regulieren ließ. Probleme, die sich lösen ließen. Herausforderungen, die anzunehmen nicht das Einbüßen eigener Emotionen und Bedürfnisse bedeutete.

Nach vielen Wochen des gemeinsamen Erarbeitens neuer Strategien und Wege, mit all dem umzugehen, sich Säulen zu bauen, zusammen zu halten und Bindung aufzubauen, war aus meinem Sohn ein kleiner Mensch geworden, der in seiner Entwicklung so herangeschritten war, dass er artikulieren konnte, welches unbefriedigte Bedürfnis ihn gerade so frustrierte, welche Maßnahme er sich wünschen würde und wie ich ihm helfen könnte, sich besser zu fühlen. Wir erkannten, wann Pausen unumgänglich waren und wann ihm einfach alles zu viel war. Wir verkürzten die Tage bei der Tagesmutter und verbrachten mehr Zeit zusammen. Wir sprachen über alles, was ihn und mich bedrückte, in einer Form, die er verstand und auf die er reagieren konnte. Wir trösteten uns – gegenseitig. Wir weinten und tobten, und wir entschuldigten und vertrugen uns anschließend. Wir entfernten uns und näherten uns wieder an. Immer und immer wieder. Und das Ergebnis war nicht, wie so oft befürchtet, ein Tyrann, der nun systematische Wege kannte, seine Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Auch nicht ein tobendes Kleinkind, das sich bei jedem Nein und bei jeder „Grenze“ auf den Boden warf, sein Recht schreiend einforderte und ständig in Machtkämpfe ging. Nein, vielmehr war es ein kleines Kind, das gelernt hatte, nicht nur „Ja“ und „Amen“ zu sagen, sondern klar die eigenen Wünsche zu formulieren. Das Umsetzen dieser ging mal – und mal nicht. In letzterem Fall hatten wir Wege entwickelt, Kompromisse zu verhandeln und uns anzunähern. Und bei uns zu bleiben – immer.

 

„Du musst wandern, ein Fuß nach dem Ander’n“

Heute sehe ich meinen 3-jährigen an, wenn er mich „Blödmann“ nennt oder „Du bist doof, Mama!“ sagt, weil ich nicht vom Sofa aufstehe, um ihm sein Figürchen aufzuheben, das direkt vor seinen Füßen liegt, weil es für ihn nur ein Bücken bedeutet – und bin stolz. Voller Stolz und Liebe. Klar, auch mich nerven seine Beleidigungen manchmal und auch ich habe Tage, da könnte ich schon morgens um acht Uhr alles hinwerfen. Wenn ich schlecht geschlafen habe und tagelang wieder keine ruhige Minute für mich hatte, ganz besonders. Aber in den ruhigen Momenten, in denen ich Zeit habe, über die letzten 18 Monate nachzudenken, über all das, was uns hätte auseinander treiben können und uns stattdessen so nah zueinander gebracht hat, wie nichts anderes zuvor, dann bin ich stolz.

Heute kann ich ein Weinen aus Wut und Frust unterscheiden von einem, aus Trauer und Überforderung. Weil ich mein Kind beobachtet habe und diesen Weg mit ihm mit offenen Augen und offenem Herzen gegangen bin. Weil ich Mythen und Ammenmärchen über tyrannisierende Kinder und die Weltherrschaft abgelegt habe und weil ich nur geglaubt habe, was ich sah. Und weil ich gelernt habe, die „Trotzphase“ meiner Kinder als lebenswichtigen Entwicklungsschritt anzunehmen und zu mögen.

Heute finde ich es unglaublich kompetent, wenn mein Sohn klar ausdrücken kann, dass er NICHT einfach hochgenommen und weggetragen werden, das Müsli nicht essen, die Jacke, die zu warm ist, nicht anziehen oder einfach nicht mitmachen will, nur weil wir meinen, er müsste. Bei was auch immer. Denn es ist nicht immer so, nicht rund um die Uhr. Die Zeit, in der Tobsucht und Wut rund um die Uhr präsent ist, die vergeht. DAS ist nur eine Phase. Aber was bleibt ist das Ergebnis aus dem Umgang damit. Und der Weg, den du gegangen bist, bis zu diesem Punkt.

Heute sehe ich die Autonomieentwicklung meiner Kinder als eine Reise an. Doch, auf dieser Reise scheint nicht immer die Sonne und es geht auch nicht immer alles glatt. Und in regelmäßigen Abständen ist der Tank leer. Dann fahren wir rechts ran, steigen aus, machen eine Pause und tanken auf. Kommen wieder in unsere Kraft, steigen zurück in den Wagen und treten den nächsten Abschnitt unseres Weges an. Nicht immer fahre ich. Manchmal bin ich zu müde oder die Straße ist mir zu kurvig. Dann lenkt mein Mann das Auto rumpelnd über die Buckelpiste, weil er das besser kann und vielleicht ein Quäntchen mehr geschlafen hat. Und nicht alles erreichen wir bequem mit dem Auto. Oft gehen wir einen Teil zu Fuß. Dann wandern wir ein Stück, setzen einen Fuß nach dem anderen auf den Boden, mit unseren Kindern in Tragetüchern, auf dem Arm, im Arm, auf dem Schoß oder auf den Schultern. Und einige Wege schaffen sie dann plötzlich, wie von Zauberhand wieder ganz allein, denn:

 

Jeder Schritt auf dieser Reise, ist ein Schritt in Richtung ihrer Selbstständigkeit.

Mit jedem Tobsuchtsanfall nähern sie sich – mal laut, mal leise – an ihr eigenes „Nein“ an. An ihre Grenzen, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse. Und mit jedem Schreien, Toben und Weinen, mit jedem Trost, jedem Zuhören und jedem Auffangen, lernen sie ein kleines bisschen mehr, dass wir hier über alles reden können. Dass Wege sich ändern können, dass wir das Lenkrad in der Hand und die Macht über die Richtung unserer eigenen Füße haben. Und immer, wirklich immer, steht am Ziel dieser Reise: mein Kind. Mit all seinen Facetten und Emotionen. Mit den lauten und leisen, den schwierigen und leichten, den verletzenden und heilsamen, den verhassten und vor allem den über alle Maßen geliebten.

 

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Autonomie lieben lernen.

Wenn D-Von, heute 19 Monate alt und damit so alt wie sein Bruder, als er geboren wurde, sich wütend auf den Boden wirft, dann brauche ich keine Ratgeber mehr, denn ich habe sie alle schon gelesen. Und dennoch bringen sie mir nichts. Dort kugelt sich ein ganz anderes Kind, ein anderer Mensch, mit anderen Facetten, anderen Zielen und anderen Wünschen. Ich knie mich daneben, ich beobachte und für einen Moment bin ich genau so hilflos, wie damals im Supermarkt vor 1,5, Jahren.

Heute allerdings blicke ich freudig einer Reise entgegen, die uns bevorsteht, an deren Ende ich ein Kind kennen lernen werde, dass genau so häufig „Doofe Mama“ sagt, wie „Entschuldigung“. Oder „Ich hab dich lieb“. Oder „Ich putze mir aber nicht die Zähne!“.

Ich hebe meinen Sohn vom kalten Boden auf und schließe ihn tröstend in meine Arme, als die erste Wut verklungen ist.

Herzlich Willkommen, Autonomiephase. Schön, dass du da bist! Wir beide, wir werden uns schon noch lieben. Ich bin Kathrin. Setz dich doch.

Das hier wird ’ne Weile dauern.

3 Antworten

  1. Schön geschrieben! Ja es ist so schwer nicht einfach mit zu schreien bei der vielen Wut. Mich hat vor allem auch verunsichert, dass mein Sohn als einziger so viel und so zeitig so viele Emotionen hatte….scheinbar. Danke, dass du deine Erfahrungen teilst!

  2. Ein Text, der mich gerade echt packt und bewegt. Weil wir mit unserer 15 Monate alten Tochter gerade auch auf diese Reise gehen. Und soll ich dir was sagen? Ich freu mich drauf! Darauf, ihre Emotionen und sie noch besser kennen zu lernen. Auch darauf, über meine eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Denn das ist es, was uns weiter und wie du zurecht schreibst näher zusammenbringt. Danke!

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